I.
Nicht immer war der Ball rund …
Mannheim, Spiegelsiedlung 1908
„Und es wird nicht Fußball gespielt, hast du das verstanden Seppl?
Unter gar keinen Umständen.“ Seine Mutter sah ihn streng an, jedes
Wort klar und deutlich betonend. Alles an seiner Mutter war streng. Das schwarze
hochgeschlossene Kleid aus grobem Stoff, die straff nach hinten gebundenen Haare
und das kantige Gesicht. Noch nie hatte er sie richtig lachen gesehen. Jedenfalls
konnte er sich nicht daran erinnern. Jetzt saß sie aufrecht und zugeknöpft
am Tisch und blickte ihn durchdringend an. So, wie sie es immer tat, wenn es
um Fußball ging.
Seine Mutter war in der ganzen Siedlung wegen ihrer spitzen Zunge gefürchtet.
Aber ihn betraf das normalerweise nicht. Er war der elfjährige Nachzügler
in der Familie und wurde von allen geschont. Als seine Schwestern noch bei ihnen
gewohnt hatten, wurde er sogar richtiggehend verhätschelt. Aber seine Schwestern
waren jetzt alle aus dem Haus und so lastete das volle Augenmerk seiner Mutter
auf ihm und dem, was sie so sehr aufbrachte: Fußball.
Sie hatte ihre Näharbeiten beiseite gelegt und versuchte mit ihren stechenden
Augen zu ergründen, ob ihr Sohn sie möglicherweise anschwindelte.
Sepp saß ihr gegenüber, ein Abbild ihrer eigenen Ernsthaftigkeit,
Haltung und Undurchdringlichkeit, obwohl es unter der Oberfläche nur so
brodelte. Innen war er bis zum Zerreißen angespannt. Es war einer dieser
schrecklichen Momente, in dem die Zeit nur langsam zu vergehen schien, sich
hinzog wie Kleister. Das Ticken der Uhr, das Poltern aus der oberen Wohnung
sowie das leise Schnarchen seines Vaters auf dem Sofa waren die einzigen Geräusche
in der kleinen Wohnung. Er musste ruhig wirken, als würde ihn nichts bewegen.
Davon hing jetzt alles ab. Und er beeilte sich, ihr zu versprechen, dass Fußball
auf gar keinen Fall zur Debatte stand.
„Nein, Mutter, Ehrenwort!“, sagte er einen Tick zu schnell, hinter
seinem Rücken die Finger gekreuzt.
„Fußball ist roh und ungesund“, schimpfte sie weiter mit fester
Stimme. Ihr war diese neumodische „Engländerei“ ein Dorn im
Auge. Im Grunde genommen war Fußball für seine Eltern überhaupt
kein richtiger Sport. Seine Eltern ließen auch nicht gelten, dass viele
Bessergestellte aus der Bürgerschicht wie Realschüler und Studenten
schon längst in den noch relativ jungen Vereinen spielten. Fußball
war nichts für Arbeiter – schlimmer noch: Sie waren der festen Überzeugung,
dass Fußball-Verbände kriminelle Brutstätten waren. Wer heute
Fußball spielte, geriet morgen schon auf die schiefe Bahn. Und seine Eltern
waren sich gänzlich einig darin, dass sie dies mit allen Mitteln verhindern
mussten.
Er bemühte sich weiterhin krampfhaft um ein undurchdringliches Gesicht,
doch es fiel ihm zunehmend schwer. Seit dem Essen konnte er an nichts anderes
mehr denken als daran, mit seinen Freunden Fußball zu spielen. Im Geiste
stellte er sich die ganze Zeit vor, wie er allein gegen die anderen Jungs antrat,
den Ball nicht vom Fuß ließ, als hätte
man ihn dort festgenagelt. Dann, ein fester unnachgiebiger Schuss … und
… Tor! Sein Herz schlug schneller. Doch erst musste er an seiner Mutter
vorbei, selbst wenn das bedeutete, dass er sie anlügen musste. Und das
fiel ihm alles andere als leicht. Aber es blieb ihm keine andere Wahl. Seine
Mutter hatte ihn anscheinend einer ausreichenden Prüfung unterzogen.
„Nun gut. Aber pass auf, dass du nichts kaputtmachst. Nicht wie das letzte
Mal … .“ Drohend kreiste ihre rote, rissige Hand über seinem
Kopf, bereit sich blitzschnell sein Ohr zu packen, um daran zu ziehen und damit
ihren Worten Nachdruck zu verleihen. Sepp duckte sich instinktiv. Er
wusste genau, was sie meinte.
Das „letzte Mal“ hatte er ein Loch in seiner Hose gehabt. In der
einzigen Schulhose, die er besaß. Und das war noch schlimmer als Fußball.
Seine Mutter war erst blass geworden – leichenblass. Doch dann trat die
von allen gefürchtete blaue Ader an ihrer Schläfe hervor, füllte
sich langsam mit Blut und wurde dicker und dicker. Das war wahrlich kein gutes
Zeichen. Ehe er sich versah, hatte ihre Hand sein Ohr gepackt und daran gezerrt.
„Warte nur ab, bis dein Vater zu Hause ist. Dann gibt es ein Donnerwetter!“
Wütend hatte sie ihn angesehen. Und Sepp hatte innerlich aufgeatmet. Sein
Vater spielte die Rolle des Bestrafenden nur äußerst ungern. Deshalb
fielen seine „Strafen“, wenn man sie so nennen konnte, auch immer
äußerst glimpflich aus. Wenn es überhaupt zur Strafe kam. Viel
schlimmer war es, wenn seine Mutter – wie bei der Sache mit dem Kapellenfenster
– die Bestrafung selber in die Hand nahm. Dann riss sie ihm, während
sie schrie und tobte, die Hose herunter und zielte nach allem, was sie treffen
konnte. Und sie war gut im Treffen! Doch das hatte ihm nichts ausgemacht. Was
ihm aber wirklich wehtat, war der anschließende Hausarrest. Eine ganze
Woche Hausarrest! Sieben lange Tage, an denen er nicht Fußball spielen
konnte. Lieber hätte er die härtesten Prügel in Kauf genommen.
Und wenn sie ihn grün und blau geschlagen hätte – alles besser,
als dieser verdammte Hausarrest, der ihm jetzt erst recht drohte, wenn seine
Eltern dahinter kamen, dass er sie gerade in diesem Moment wieder in aller Unschuld
anlog.
„Ganz sicher passe ich auf die Hose auf“, bekräftigte er jetzt
inbrünstig. Als wenn die Hose ihn später noch irgendwie interessieren
würde. Er schielte in Richtung Haustür. Warum musste sie es ihm denn
so schwer machen? Langsam wurde er unruhig. Die anderen Kinder waren bestimmt
schon beim Spielen und wenn er zu spät kam, musste er erst einmal auf der
Reservebank sitzen. So waren die Regeln.
„Jetzt lass es doch gut sein, Lina …“, brummte sein Vater,
der eben aufgewacht war. Er nahm ihn immer in Schutz. Besser gesagt, fast immer.
Dass Jungen auch mal die eine oder andere Hose zerreißen konnten, dafür
hatte er Verständnis. Wofür er allerdings ebenfalls kein Verständnis
hatte, war Fußball. Da blieb auch er streng. Auch in seinen Augen war
dieser neue Sport keine Sportart, der sich Jungs in seinem Alter hingeben sollten.
Gerade schüttelte ihn wieder ein trockener Hustenanfall. Seit seiner letzten
schweren Erkältung hatte ihn die Energie verlassen. Selbst jetzt im Sommer
schien er sich nicht erholt zu haben und das Atmen fiel ihm schwer. Nach der
harten Arbeit in der Spiegelfabrik hatte er einfach keine Kraft mehr. Keine
Kraft, um seinem Sohn die Leviten zu lesen und auch keine Kraft, um seiner Frau
zu widersprechen, die für seinen Geschmack eine Spur zu streng war.
„Ich schau mir deine Schuhe an, Bürschchen! Wenn du wieder kommst!“,
kündigte seine Mutter jetzt an.
„Natürlich die Schuhe“, dachte Sepp und verdrehte leicht die
Augen, sodass es keiner mitbekam. Wenn man nicht auf die Hose aufpassen musste,
dann waren es die Schuhe, die keine Schramme abbekommen durften. Davon gab es
nur ein Paar und eine Besohlung konnten sie sich im Moment nicht leisten. Seine
Mutter kontrollierte seine Sohlen jeden Abend wenn er heimkam. Und wehe, wenn
sie etwas entdeckte, das auf Fußball schließen ließ …
„Lass ihn gehen, Lina!“, forderte sein Vater seine Mutter noch einmal
auf. Resignierend, weil sie wieder einmal gegen die letzten Worte ihres Mannes
verloren hatte, legte seine Mutter die Hände in den Schoß: „Aber
sei pünktlich zurück!“
Sie seufzte. Josef hätte sie ruhig mehr unterstützen können,
schließlich reichte das bisschen Geld, was er nach Hause brachte, kaum
aus, um alle zu ernähren. Wenn Sepp jetzt auch noch seine Schuhe kaputtmachte
… wovon sollten sie ihm denn dann neue Sohlen kaufen? Doch es nützte
ja eh nichts. Josef hatte nun mal das letzte Wort, so wie es in einer anständigen
Familie üblich war.
Lina nahm ihre Näharbeiten wieder auf. Damit war Sepp endlich entlassen
und so schnell ihn seine Füße tragen konnten, verließ er die
Enge der Wohnung.
Als die Tür zuschlug, hörte er noch, wie seine Mutter seinen Vater
annörgelte: „Und wann willst du endlich das Karnickel schlachten?
Sollen wir denn am heiligen Sonntag wieder kein Fleisch auf dem Teller haben
…?“
Das Sofa ächzte, als sein Vater schwerfällig aufstand. Sepp hörte
nur noch sein Husten, dann raste er so schnell er konnte die hölzernen
Stufen hinab und zur Haustür hinaus. Eine unheimliche Leichtigkeit war
plötzlich in seiner Brust. Freiheit.
...